VIR Innovationstage 2025

„Einfluss braucht Struktur – und den Mut, sich zu zeigen“

Wie bekommt die Tourismusbranche politisches Gehör? Michael Buller und Marcel Klinge geben auf den VIR Innovationstagen ehrliche Einblicke in politische Interessenvertretung – und zeigen: Wer in Berlin nicht mitspielt, wird auch nicht mitgedacht.

„Einfluss braucht Struktur – und den Mut, sich zu zeigen“
Was genau macht eigentlich ein Verband – und was muss er leisten, um politisch wirklich gehört zu werden? Wer bei dieser Frage an klassische Lobbyarbeit mit Anzug, Aktenmappe und Hinterzimmerrunden denkt, liegt daneben. Zumindest wenn man Michael Buller und Marcel Klinge zuhört. Ihr Panel auf den VIR Innovationstagen 2025 war ein offener Austausch zwischen Praxis und Politikverständnis – mit überraschenden Einsichten.

„Es reicht nicht, recht zu haben – man muss anschlussfähig argumentieren“
Marcel Klinge, ehemaliger FDP-Bundestagsabgeordneter und tourismuspolitischer Sprecher, kennt beide Seiten: die politische Logik im Bundestag und die Herausforderungen der Verbandsarbeit. Heute ist er selbst in der organisierten Interessenvertretung tätig. Seine Kernbotschaft: „Politik ist strukturell blind für das, was nicht laut ist. Wer nicht aktiv erklärt, warum sein Thema relevant ist, wird schlicht nicht wahrgenommen.“

Und genau hier liegt für die Touristikbranche eine zentrale Herausforderung. Trotz ihrer wirtschaftlichen Bedeutung – über drei Millionen Beschäftigte, rund 290 Milliarden Euro Jahresumsatz – spielt sie in vielen politischen Debatten kaum eine Rolle. Woran das liegt? „Wir haben zu wenig gemeinsame Sprache“, meint Michael Buller. „Es fehlt uns an einem politischen Narrativ, das die Branche vereint und in der politischen Arena ankommt.“
 

Tourismus als Teil der Daseinsvorsorge? Ein Perspektivwechsel
Ein starkes Narrativ könne – so Klinge – den Unterschied machen zwischen symbolischer Erwähnung und struktureller Berücksichtigung. Als Beispiel nennt er die Corona-Pandemie: „Die Reisewirtschaft war stark betroffen, aber politisch schlecht organisiert. Da fehlte es an Sichtbarkeit, an Strukturen, an klarer Kommunikation.“ Was sich daraus lernen lasse? Nicht nur jammern – sondern systematisch aufklären.

Marcel Klinge fordert einen zentralen Ansprechpartner für die Tourismusbranche auf Bundesebene – angesichts ihrer Rolle als zweitgrößter Arbeitgeber in Deutschland sei das längst überfällig. „Das muss unsere Anspruchshaltung sein“, betont Klinge. Voraussetzung dafür sei jedoch ein geschlossener Auftritt der Branche. Öffentliche Alleingänge oder mangelnde Abstimmung schadeten dem Anliegen massiv. Nur durch Zusammenarbeit könne die Touristik politisch ernst genommen und wirksam vertreten werden, so Klinge.

Michael Buller fordert deshalb eine Neupositionierung: „Wir müssen deutlicher machen, was Tourismus für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeutet: Er verbindet Kulturen, fördert Mobilität, sorgt für Lebensqualität – und ist längst Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge.“ Eine solche Perspektive verändere nicht nur das Selbstbild der Branche, sondern auch ihre politische Verhandlungsposition.

„Politische Prozesse sind keine Blackbox – sie haben nur eine eigene Grammatik“
Ein wichtiger Teil des Gesprächs widmete sich der praktischen Mechanik politischer Prozesse – und der Frage, wie Verbände hier strategisch agieren können. Klinge erläuterte, wie Anträge entstehen, wie Ausschüsse funktionieren, wie Fristen gesetzt werden – und warum es so entscheidend ist, im richtigen Moment am richtigen Tisch zu sitzen. „Viele glauben, Politik sei intransparent. Aber sie ist vor allem erklärungsbedürftig.“

Genau deshalb, so Buller, brauche es professionelle Interessenvertretung – aber auch engagierte Mitglieder, die diesen Prozess mittragen. „Wir als Verband können nicht alles allein leisten. Wir brauchen Stimmen aus der Praxis, persönliche Geschichten, Unternehmer:innen, die bereit sind, mit Politik ins Gespräch zu gehen.“

Empathie statt Empörung: Wie Vertrauen entsteht
Das Spannungsfeld zwischen konstruktiver Kritik und politischem Realismus zog sich durch das gesamte Gespräch. Klinge machte deutlich, dass man Politik nicht vor sich hertreiben könne. „Ein guter Verband versteht, wann er fordern und wann er unterstützen muss.“ Vertrauen entstehe nicht durch Lautstärke, sondern durch Verlässlichkeit, Expertise und langfristige Beziehungspflege.

Buller pflichtete bei: „Natürlich müssen wir auch unbequem sein, wenn es nötig ist. Aber nachhaltige Interessenvertretung entsteht nicht durch Konfrontation, sondern durch Zusammenarbeit.“ Deshalb sei es so wichtig, politisches Denken zu verstehen – nicht als Gegenteil von wirtschaftlichem Handeln, sondern als eigenständige Logik.

Zwischen Digitalisierung und Klimawandel: Neue Aufgaben für die Interessenvertretung
Inhaltlich habe sich die Agenda stark erweitert, erklärten beide. Ging es früher vor allem um Verbraucherschutz oder Steuerfragen, stehen heute Themen wie Nachhaltigkeit, digitale Infrastruktur, Arbeitskräftemangel und Datenökonomie im Vordergrund. Die Touristik werde in immer mehr politische Debatten einbezogen – was zugleich Chance und Herausforderung sei.

„Wir müssen zeigen, dass wir Teil der Lösung sind – nicht des Problems“, sagte Klinge mit Blick auf die Klimadiskussion. Und auch in Sachen Künstliche Intelligenz brauche es klare Positionierungen. Buller ergänzte: „Wenn wir nicht erklären, was Digitalisierung für unseren Sektor konkret bedeutet, überlassen wir das Feld anderen.“

Das Fazit 
Marcel Klinge kritisiert die politische Zersplitterung der Tourismusbranche und plädiert für neue Formen der Zusammenarbeit. Statt einer zentralen Organisation für alle schlägt er ein flexibles, themenbezogenes Netzwerkmodell vor, bei dem jeweils ein Verband wie der DRV, DTV oder VDR je nach Thema die Federführung übernimmt. Entscheidend sei nicht die Struktur, sondern ein geschlossener, koordinierter Auftritt gegenüber der Politik.

Zum Vergleich nennt Klinge die Versicherungswirtschaft, die jährlich rund 16 Millionen Euro in politische Arbeit investiert und mit über 150 Fachleuten in der Interessenvertretung arbeitet. Die Tourismusbranche sei weit davon entfernt – und müsse ihre Kräfte dringend bündeln. „Das ist die große Stellschraube“, so Klinge, „wir brauchen eine stärkere Vertretung auf Spitzenverbandsebene.“

Als gelungenes Beispiel nennt er das gemeinsame Positionspapier zur Bundestagswahl: „Jeder Input hat das Papier besser gemacht.“ Es gehe darum, der Politik ein konsolidiertes, lösungsorientiertes Angebot zu machen – nicht um Eitelkeiten. Nur wer mit einer Stimme spricht, werde gehört. Und das zahle sich aus: in besseren Rahmenbedingungen, weniger Gegenwind – und mehr politischem Gewicht.

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Die Kernaussagen:
•    Politische Interessenvertretung ist Übersetzungsarbeit, nicht elitäres Machtspiel. Es geht darum, komplexe Anliegen verständlich und anschlussfähig zu formulieren.
•    Einfluss erfordert mehr als Argumente – nämlich Geduld, Klarheit und dauerhafte Präsenz im politischen Raum.
•    Die Tourismusbranche muss sich von ihrer strukturellen Bescheidenheit lösen und ihre gesellschaftliche Bedeutung deutlich selbstbewusster vertreten.
•    Tourismus ist mehr als Urlaub – er ist Teil kultureller Verständigung, ökonomischer Stabilität und digitaler Transformation.
•    Politik wartet nicht – sie reagiert auf sichtbare, konsolidierte Impulse. Wer nicht spricht, wird überhört.
•    Die Branche muss raus aus der Bittstellerrolle und sich als Mitgestalterin einer zukunftsfähigen Gesellschaft positionieren.
•    Die politische Bühne ist offen. Man muss sie nur betreten – laut, strategisch und mit inhaltlicher Substanz.