VIR Innovationstage 2025

Zwischen Avocado, KI und Sehnsucht: Was uns der Zeitgeist wirklich sagt

Wachstum, Wandel, Werte – oft nur Schlagworte. Kirstine Fratz zeigt auf den VIR Innovationstagen, warum der Tourismus nur dann zukunftsfähig ist, wenn er kulturelle Sehnsüchte versteht statt bloß Trends zu bedienen.

Zwischen Avocado, KI und Sehnsucht: Was uns der Zeitgeist wirklich sagt
Foto: TRVL Counter
Was passiert eigentlich, wenn man in einer Branche, die gerne über Buchungslücken, Techniklösungen und Conversion Rates spricht, plötzlich mit Begriffen wie „leeres Feld der Sehnsucht“ oder „kulturelle Positionsmacht“ konfrontiert wird? Die Antwort: Es öffnet sich ein neues Fenster – eines, das weiterblickt als bis zur nächsten Saison. Genau das hat Kirstine Fratz, Kulturwissenschaftlerin und Zeitgeistforscherin, auf den VIR Innovationstagen 2025 geschafft.

Ihr Vortrag war keine Keynote im klassischen Sinne. Kein Appell an Effizienz, keine Powerpoint über Wachstumsmärkte. Sondern ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, tiefer zu schauen: auf das, was Gesellschaften wirklich bewegt – und was sich unter der Oberfläche kultureller Routinen langsam, aber machtvoll verschiebt.



Der Zeitgeist ist keine Mode – er ist ein Deutungssystem
Fratz beschreibt den Zeitgeist als das Betriebssystem unserer kulturellen Wirklichkeit. Er gibt vor, was wir als „normal“, „gut“, „modern“ oder „richtig“ empfinden – und verändert sich ständig. Doch diese Dynamik werde häufig unterschätzt, gerade in der Wirtschaft. Der Grund: Sie ist nicht sichtbar, aber wirksam. Nicht linear, aber radikal.

Was das mit Tourismus zu tun hat? Eine ganze Menge. Denn auch Reisen ist kein neutraler Konsumakt, sondern Ausdruck davon, wie wir uns ein gelungenes Leben vorstellen. Und genau dieses Bild ist im Wandel: Familie, Erholung, Status, Sinn – all das wird neu verhandelt.
Kulturelle Ordnungen wanken – und genau da entsteht Neues.

Fratz erklärt diesen Wandel anhand eines wiederkehrenden Musters: Zuerst dominiert eine gesellschaftliche Norm – etwa die romantische Liebe, das klassische Familienmodell oder die leistungsorientierte Arbeitswelt. Dann zeigen sich die „Kollateralschäden“: Überforderung, Ungleichheit, innere Leere. Schließlich öffnen sich neue Räume – experimentelle Formen des Zusammenlebens, Arbeiten, Erholens. Sie nennt das die „Ermöglichungsphase“.

In dieser Phase, so Fratz, liegt das kreative Potenzial – für neue Konzepte, neue Narrative, neue Produkte. Und genau hier sollte eine innovative Branche wie die Touristik ansetzen: nicht nur reagieren, sondern mitgestalten. Etwa indem Urlaubsangebote die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen heute adressieren – nicht die Ideale von gestern.

Sehnsucht statt Zielgruppe
Was Fratz besonders deutlich macht: Marketing-Kategorien greifen zu kurz. Wer die Zukunft verstehen will, muss die Sehnsüchte dahinter verstehen. Warum boomt Wellness? Nicht (nur), weil Menschen fit sein wollen, sondern weil sie Halt in einer überfordernden Welt suchen. Warum hinterfragen so viele die romantische Liebe? Nicht aus Zynismus, sondern weil sie ein anderes Kompetenzprofil braucht als früher. Und warum gewinnt Community an Bedeutung? Weil die Kleinfamilie als tragendes Modell an ihre Grenzen stößt.
Gerade im Tourismus wird oft versucht, diese Entwicklungen technisch zu bedienen – etwa mit smarter Personalisierung oder KI-basierten Empfehlungen. Fratz zeigt dagegen, dass man sie kulturell deuten muss: Welche Geschichten erzählen wir mit einer Reise? Welchen Sinn bieten wir an? Und wo dürfen Menschen sich wirklich erholen – nicht nur körperlich, sondern kulturell?

Zwischen Kapitalismuskritik und Konsumintelligenz
Es war wohltuend, wie Fratz in ihrem Vortrag mit großer Leichtigkeit, aber auch Tiefe über Konsum sprach – nicht als Problem, sondern als Ausdruck eines inneren Aushandlungsprozesses. „Zeitgeist folgt der Kompensation, nicht dem Ideal“, sagte sie. Und legte damit einen wunden Punkt offen: Wir kaufen nicht das, was wir brauchen, sondern das, was uns fehlt.

Diese Lücke zu verstehen, ist der wahre Schlüssel zu Innovation. Wer diese Sehnsuchtsräume erkennt – sei es im Bereich Einsamkeit, mentale Gesundheit, Zugehörigkeit oder Verbindlichkeit – kann nicht nur Produkte schaffen, sondern Resonanz. Und das ist am Ende weit mehr als Zielgruppenmarketing: Es ist kulturelle Intelligenz.

Kulturelle Kompetenz als Wettbewerbsvorteil
Ein weiterer Punkt, der Fratz’ Vortrag so relevant macht: ihre klare Abgrenzung zur Technikgläubigkeit. KI, sagt sie, kann vieles – aber keine kulturelle Kontextualisierung. Algorithmen erkennen Muster, aber keine Bedeutung. Sie verarbeiten, was war – nicht, was fehlt. Und genau das sei die große Chance für alle, die gestalten wollen: Der Mensch bleibt Deutungsinstanz.

Gerade in einer Branche, die sich im Spannungsfeld von Technologie, Emotion und Erlebnis bewegt, ist das eine wertvolle Erinnerung: Zukunft wird nicht nur programmiert – sie wird auch erzählt.
Der klügste Vortrag, der keinen Fahrplan liefern wollte.

Kirstine Fratz hat auf den VIR Innovationstagen etwas getan, was man selten erlebt: Sie hat ein Auditorium mit hochkomplexen kulturellen Konzepten konfrontiert – und es dabei geschafft, Menschen zu inspirieren statt zu überfordern. Ihr Blick auf den Zeitgeist ist kein Ratgeber – sondern eine Einladung zum Mitdenken. Und vielleicht ist das genau das, was die Touristik jetzt braucht: weniger Handlungsdruck, mehr kulturelle Neugier. Weniger „Was verkauft sich gut?“, mehr „Wofür sind wir eigentlich Resonanzraum?“ Denn die Frage, an welches Leben Menschen glauben – ist am Ende auch die Frage, an welchen Urlaub sie glauben. Und das ist eine Frage, die sich mit KI allein nicht beantworten lässt.
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Zur Person
Kirstine Fratz ist Kulturwissenschaftlerin und Deutschlands führende Zeitgeist Forscherin. Sie untersucht die Auswirkungen des Zeitgeists auf unsere kulturelle Entwicklung und zeigt Wege auf, wie man damit eine bessere Zukunft gestalten kann. Sie berät Unternehmen und Institutionen wie Unilever, Gucci, Facebook, Audi, Burda und die Kirche. Sie ist internationale Speakerin, Hochschuldozentin, Aufsichtsratsmitglied bei German Real Estate, TED Speaker, Masterclass Host und Autorin.