VIR Innovationstage 2025

„Der Wandel ist da – und wir tun so, als sei alles wie früher“

Michael Buller eröffnet die VIR Innovationstage mit klaren Worten: Er warnt vor Technikangst, Selbstzufriedenheit und dem blinden Glauben an Wachstum – und ruft die Branche auf, sich mutig neu zu erfinden.

„Der Wandel ist da – und wir tun so, als sei alles wie früher“
Foto: TRVL Counter
Wer Michael Buller kennt, weiß: Seine Reden sind keine Wohlfühlveranstaltungen. Der Vorstand des Verbands Internet Reisevertrieb (VIR) nutzt seine Keynotes regelmäßig, um der Branche den Spiegel vorzuhalten. Auch zum Auftakt der diesjährigen VIR Innovationstage in Berlin enttäuscht er diesen Ruf nicht – im Gegenteil: Seine Analyse ist schonungslos, sein Ton eindringlich, seine Botschaft unmissverständlich. Die Touristik, so Bullers zentrale These, steht an einem Wendepunkt. Und wer glaubt, man könne einfach dort weitermachen, wo man 2019 aufgehört hat, riskiert die Zukunft des eigenen Geschäftsmodells.

Wir verkaufen das Glück
„Wir verkaufen Glück“, beginnt Buller – und beschreibt das Idealbild, das viele Anbieter noch immer pflegen: entspannte Kunden, leere Flughäfen, reibungslose Abläufe. Doch diese Vorstellung sei längst überholt. „Diese Welt existiert nicht mehr“, so Buller trocken – und zählt auf: Extremwetter, geopolitische Krisen, ökonomische Unsicherheit. „Und trotzdem wird an vielen Stellen so getan, als sei alles wie früher.“

Ein besonders drastisches Beispiel: das Klima. 34 Grad im Juni in Berlin, umgestürzte Bäume, stillstehende S-Bahnen – „die komplette Mobilität bricht zusammen.“ Die Konsequenzen für den Tourismus liegen für Buller auf der Hand: Wer fährt bei 43 Grad noch in die Türkei? Wer campt gerne im Überschwemmungsgebiet? Und wer plant seine Reisen noch Monate im Voraus, wenn die Welt von Woche zu Woche kippt?

Die Frühbucherlogik der Branche wankt. Ebenso wie die Zahlungsbereitschaft: „Reisen sind fast 50 Prozent teurer geworden – das ist für viele nicht mehr drin.“ Wer im Januar entscheidet, ob er im September verreisen kann, muss heute ein Maß an Sicherheit mitbringen, das es nicht mehr gibt. Arbeitsplätze wackeln, Budgets schwinden, Zukunftsängste nehmen zu. Und während die Branche stolz von Umsatzrekorden spricht, verbergen sich dahinter beunruhigende Verschiebungen.

„3,6 Millionen klassische Urlaubsreisen fehlen im Vergleich zu 2019“, rechnet Buller vor. Gleichzeitig steigen Kurzreisen rasant an – allein 6,6 Millionen zusätzliche Kurztrips wurden gezählt, etwa im boomenden Segment der Sportreisen. Eine Expedia-Studie zeige: 1.500 Dollar geben Reisende im Schnitt für so eine Kurzreise aus. „Das ist ein Riesengeschäft. Aber sind wir dafür aufgestellt?“ Viele Veranstalter, so Buller, verkaufen nach wie vor Mallorca – und verschlafen die Nachfrage nach anderen Reiseformen. „Was passiert, wenn die klassische Pauschalreise wegbricht – und wir kein Angebot für die neue Nachfrage haben?“

Auch beim Thema Overtourism mahnt Buller eine ehrlichere Auseinandersetzung an. Am Beispiel der Balearen zeigt er: Der Tourismus ist dort von acht auf 18 Millionen Besucher im Zeitraum zwischen 2004 und 2024 gestiegen bei wachsender Bevölkerung und stagnierendem Wohnungsbau. „Und was tun wir? Wir zeigen mit dem Finger auf andere. Aber gelöst werden muss es vor Ort.“ Regulierung sei notwendig, keine Symbolpolitik. „Wenn du zu viele Gäste hast, brauchst du kein zweites Terminal – du brauchst klare Regeln.“

Doch besonders viel Raum widmet Buller in seiner Rede einem Thema, das nicht mehr in der Zukunft liegt, sondern längst Realität ist: Künstliche Intelligenz.



„KI wird uns nicht ersetzen – aber sie wird Menschen ersetzen, die KI nicht einsetzen können“
Bullers zentrale Botschaft in Sachen Technologie ist klar: Wer glaubt, KI sei nur ein weiteres digitales Tool, hat die Tragweite nicht verstanden. „Wir erleben gerade den Eintritt einer Technologie, die so schnell, so barrierefrei und so radikal ist wie keine zuvor“, sagt er. Und ergänzt mit Blick auf viele seiner Branchenkollegen: „Und wir tun so, als hätten wir noch 30 Jahre Zeit.“

Die Einstiegshürden seien minimal: „Ein Suchfeld und 20 Dollar – das reicht.“ Kein Nerdwissen mehr nötig, keine monatelangen Schulungen – nur die Fähigkeit, eine kluge Frage zu stellen. „Und wer das kann, kann heute Dinge tun, für die früher ganze Teams gebraucht wurden.“ Reiseplanung, Beratung, Angebotsvergleiche, Service: KI wird zentrale Prozesse vereinfachen, beschleunigen – und menschliche Arbeit ersetzen.

Doch Buller denkt weiter: „Brauchen wir dann überhaupt noch Reiseveranstalter? Oder Vertrieb? Was passiert mit unserer gesamten Wertschöpfungskette, wenn KI mit ein paar Klicks die perfekte Reise kuratiert?“ Die Branche müsse sich auf fundamentale Veränderungen einstellen – strukturell, inhaltlich, organisatorisch. „Wenn wir nicht verstehen, wie unsere Prozesse funktionieren, werden wir sie auch nicht automatisieren oder neu denken können.“

Was Buller besonders irritiert, ist die Haltung vieler Akteure. Statt neugierig und proaktiv zu agieren, herrsche vielfach Abwehr. „Wir lieben es, uns in Opferrollen zu suhlen. Und dann soll die Politik richten, was wir selbst nicht gestalten wollen.“ Doch Unternehmertum brauche andere Tugenden: Neugier, Mut – und Ehrlichkeit.

Er erinnert daran, dass die Touristik einst zu den Vorreitern der Digitalisierung gehörte: „Wir haben Kataloge digitalisiert, als andere noch analoge Broschüren verschickten.“ Heute dagegen werde oft noch über technische Grundlagen diskutiert – während internationale Plattformen längst mit KI-gestützten Hyperpersonalisierungen experimentieren. „Wenn wir als Branche den Anschluss nicht verlieren wollen, müssen wir jetzt handeln – nicht in ein paar Jahren.“
Fazit: Schluss mit dem „Weiter so“.

Ein Appel an alle in der Branche
Am Ende seiner Keynote appelliert Buller an den Unternehmergeist der Anwesenden: „Wir sind eine Branche mit sechs Millionen Arbeitsplätzen. Wir tragen Verantwortung – nicht nur wirtschaftlich, sondern gesellschaftlich.“ Deshalb seien die VIR Innovationstage kein Technikzirkus, sondern ein Ort der Selbstreflexion. „Wir müssen unsere Geschäftsmodelle neu denken – und unsere Denkmodelle gleich mit.“ Buller ruft dazu auf, Unternehmertum wieder mit Veränderungswillen zu verbinden – auch wenn der notwendige Wandel einem Marathon gleiche, der schneller auf uns zukomme, als viele erwarten. 

Die diesjährigen VIR Innovationstage seien deshalb bewusst anders konzipiert: Statt bloßer Technologie-Showcases gehe es darum, sich ehrlich mit dem eigenen Geschäftsmodell auseinanderzusetzen. Nicht alles sei neu, manches vielleicht schon oft gehört – aber gerade jetzt wieder dringend relevant. Es sei an der Zeit, den sprichwörtlichen „alten Koffer“ auszupacken, das eigene Business kritisch zu prüfen und mutig neu anzupacken.

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Zur Person
Michael Buller ist seit über 15 Jahren Vorstand des VIR (Verband Internet Reisevertrieb e.V.). Der Verband repräsentiert über 90 digitale Touristikunternehmen aus den Bereichen OTA, Veranstalter, Technologieanbieter und Start-ups. Buller gilt als einer der wichtigsten digitalen Vordenker der Branche.