ITB-Chef David Ruetz

"Wir glauben an die Magie der persönlichen Begegnung"

Sagt ausgerechnet der Messe-Chef, der die digitale ITB eingeführt hat. Ein Gespräch im Nachklang zur virtuellen ITB NOW 2021 über die Tücken der Technik und seine Learnings daraus.

"Wir glauben an die Magie der persönlichen Begegnung"
Foto: Messe Berlin
Herr Ruetz, im März hat die ITB mit einer virtuellen Messe ein Experiment gewagt, das einmalig ist in ihrer 55-jährigen Geschichte. Haben Sie die ITB NOW gut überstanden?
Also, ich schlafe nach wie vor gut. Aber ernsthaft, wir sind noch bei der Auswertung, und wir haben viel differenziertes Kundenfeedback bekommen. Es geht darum, zu lernen und fürs nächste Jahr das Optimum für unsere Kunden rauszuholen. Und da haben wir viele Learnings, das muss ich schon sagen.

Es wird aber keine Rückkehr zum alten Normal geben, oder?
Was die ITB 2022 betrifft, ist das absolut sicher.

Kritikpunkte und Verbesserungsbedarf gibt es zuhauf. Zum Beispiel wurden die Ticketpreise als überhöht kritisiert. Was meinen Sie dazu?
Wir haben uns das sehr genau überlegt und fanden den Preis für ein Ticket gerechtfertigt. Wir haben uns bewusst entschieden, dass wir die ITB nicht »verschenken« wollen und haben damit ihre Wertigkeit betont. Natürlich steckt in den Preisen auch ein Stück Arbeitsleistung drin, Entwicklungskosten und vieles mehr. Die Marke ITB hat seit 1966 Bestand, und sie hat einen gewissen Wert. Hier wollten wir auch ein Signal setzen.

Als die Messe vorbei war, haben Sie da erst einmal aufgeatmet, einen Stoßseufzer gemacht und gefeiert?
Wir haben tatsächlich eine digitale Party mit unseren Mitarbeitern gefeiert. Und wir sind insgesamt sehr happy mit dem Ergebnis der Messe. Wir haben ja keine Erfahrungswerte, eigentlich hat niemand mit einer großen digitalen Messe Erfahrungswerte. Und wenn ich sehe, dass wir mehr als 3.500 ausstellende Unternehmen dabei hatten, mehr als 50.000 Konferenz- und Kongressteilnehmer und mehr als 65.000 ITB-Teilnehmer, dann ist das für mich ein gutes Ergebnis.

Die Plattform ist auch technisch nicht abgeschmiert oder kam ins Stocken, das wäre bei dem Andrang nicht verwunderlich gewesen. Trotzdem gab es einige Probleme am ersten und zweiten Tag, etwa beim Aufrufen der Seite, und es gab diverse Login-Probleme. Das wurde aber ziemlich geräuschlos hinter den Kulissen behoben. Wie lief das ab?
Das stimmt, man sollte die Technik generell nicht unterschätzen. Je mehr Teilnehmer, desto komplexer die Anforderungen. Das fängt bei der Bandbreite des eigenen Anschlusses an, beim eigenen Endgerät, ob man WLAN nutzt oder nicht. Manchmal sind es Kleinigkeiten, etwa ob gleichzeitig andere Anwendungen wie Teams laufen. Teams drängt alle anderen Anwendungen radikal zurück. Es gibt unterschiedliche Leitungen, unterschiedliche Provider, unterschiedliche Endgeräte. Die Digitalität hat durchaus ihre Tücken und liegt nicht immer beim Anbieter. Das haben wir auch gelernt.

Vielfach wurde moniert, dass es keine mobile Version der Plattform für Smartphones und Tablets gab. Warum eigentlich gab es das nicht?
Auch das haben wir vorher sehr gut überlegt. Aufgrund der Funktionen und der nötigen Bildschirmauflösung war die Plattform nur für PCs und Notebooks ausgelegt. Das hatten wir allerdings den Teilnehmern zuvor gesagt. Wer jetzt meckert, hat das nicht zur Kenntnis genommen. Wir sehen aber, dass der Kundenwunsch vorhanden ist, und das bedeutet, dass wir für 2022 Funktionen verschlanken oder streichen zugunsten einer mobilen Version, wie es sich die Teilnehmer wünschen.

Gut zu wissen, aber sicherlich kann man nicht alle Wünsche erfüllen. Es scheint vor allem etwas knapp im Timing gewesen zu sein?
Wir haben tatsächlich, und das ist auch wieder ein Learning, auf den letzten Metern noch sehr viele Kundenwünsche eingearbeitet und umgesetzt. Wir müssen besser abwägen, wann machen wir einen Schnitt? Und wir haben ihn – glaube ich – zu spät gemacht, was das Einpflegen der Kundenwünschen betrifft.

"Diese Plattform ist nicht die eierlegende Wollmilchsau"

Geben Sie uns da ein Beispiel?
Ein großer Wunsch war, dass jeder eine farbliche Statusanzeige hat, der angibt, ob man verfügbar, im Gespräch oder offline ist. Das führte am ersten Tag dazu, als sich die ersten 20.000 Teilnehmer um 10 Uhr einwählten, dass das System jeden der 20.000 untereinander abgecheckt hat, was sie in Relation zueinander machen. Das heißt, es gab 20.000 hoch zwei Bewegungen pro Sekunde auf der Plattform. Das war so natürlich nicht geplant und führte dazu, dass wir kurzfristig einen Reset machen mussten. Unsere IT-Leute und unser Dienstleister haben das im Hintergrund durch Bugfixes behoben. Wir hätten vielleicht strenger sein sollen beim Testing und sagen sollen: Liebe Kunden, diese Plattform ist nicht die eierlegende Wollmilchsau. Irgendwo und irgendwann muss es einmal einen Schnitt geben.

Hatten Sie insgesamt zu wenig Zeit zum Aufsetzen der Plattform?
Ja, so ist es. Wir haben uns Ende Oktober öffentlich geäußert, um der Branche eine Planungssicherheit zu geben. Das sind nur wenige Monate Entwicklungszeit gewesen. In diesem Jahr wollen wir uns früh festlegen und kündigen eine hybride ITB für 2022 an. Das heißt, es wird einen physischen Anteil vor Ort geben, ebenso ein Streaming von Konferenzinhalten, gekoppelt mit Präsenz-Events, die vor- oder nachgelagert werden.

Wie ist das gemeint? Eine ITB mit echten Ständen vor Ort?
Ja genau. Mit Sicherheit werden wir nächstes Jahr Messestände haben. Wir haben das im letzten Herbst mit der Funkausstellung IFA ausprobiert. Dort gab es physische Stände wie auch Konferenzen mit Teilnehmern, deren Inhalte aber auch live gestreamt wurden.

Was ist mit der persönlichen Begegnung, wie wir es kennen?
Wir wollen den Charakter der Messe, die persönliche Begegnung, auf jeden Fall bewahren. Diese hybride Komponente kommt durch das Streaming und eine digitale Kommunikation dazu. Wir werden im Herbst eine klare Aussage machen, ob diese physische ITB so stattfindet, wie wir sie jetzt im April planen.

Auch wenn vieles im März virtuell war, war der Aufwand vor Ort recht hoch. Können Sie das beschreiben?
Also, man muss sich vorstellen, dass wir rund 150 Leute jeden Tag brauchen, um die Live-Konferenz aus zwei Studios aufrechtzuerhalten. Und wegen der Pandemie muss ich alle einschließen. Auch die Hygienevorschriften müssen umgesetzt werden, also jede Toilette muss besetzt sein, alles muss immer gereinigt werden. Das DRK ist vor Ort und testet mit unserer Betriebsfeuerwehr. Der Wachschutz ist verdoppelt. Und das Catering braucht mehr Leute, weil die Ausgabe einzeln und in Paketen erfolgt. Insgesamt ist ein enormer zusätzlicher Aufwand nötig, um unter Pandemie-Bedingungen zu produzieren. Die gute Nachricht: Es geht! Und für 2022 wage ich mich aus dem Fenster zu lehnen und sage: Egal, wie die Pandemie ist, es wird auf jedem Fall ein Stück physische ITB in Berlin geben.

"Mehr Sprachen bedeutet einen riesigen Aufwand zusätzlich"

Die ITB findet ja grundsätzlich auf Englisch statt. Auf der Plattform dagegen ist eine deutsche Sprachführung durchaus möglich, doch es gab keine. Ist dies in Zukunft geplant?
Auch das hatten wir lange überlegt. Englisch ist nun mal die globale Sprache der Touristiker. Doch die technische Implementierung einer Plattform mit mehreren Sprachen darf nicht unterschätzt werden. Jede Änderung muss man folgerichtig in allen Sprachversion auch ändern. Wir sehen das bei den Kollegen in Shanghai, die eine chinesische und eine englische Version haben. Das ist ein riesiger Zusatzaufwand und kostet viele Ressourcen.

Einige Aussteller und Veranstalter haben kritisiert, dass sie unerwartet wenig Kundenkontakt hatten oder dass sie sich mehr erhofft hatten und wollen eine Form der Kompensation. Was machen Sie denn da?
Momentan werten wir noch das Kundenfeedback im Einzelnen aus, und das wird einen Moment in Anspruch nehmen, weil es eben sehr differenziert ist. Ich muss allerdings auch sagen, dass wie bei einer physischen Messe das erfolgreiche Geschäft zu großen Teilen aus einer guten Vorbereitung, aus spannenden Inhalten, aus gutem Vorabmarketing sowie einem effizienten Einladungsmanagement besteht. Und das haben wir mit kostenfreien und unlimitierten Gästetickets stark unterstützt. Worauf wir keinen Einfluss hatten, ist leider das Thema Kurzarbeit in den Betrieben. Ein Spezialveranstalter aus München zum Beispiel kommt normalerweise mit mehr als 80 Mitarbeitern zur ITB. In diesem Jahr gab es nur eine Person, die sich um alles gekümmert hat. Jeder Teilnehmende hatte übrigens die Wahl, ob er oder sie auf der Plattform gefunden werden wollte. Das führte auch dazu, dass manche Einkäufer nicht gefunden wurden, weil sie nicht gefunden werden wollten. Dennoch nehmen wir die Kommentare unserer Kunden absolut ernst.

"Wir können nicht der Branche alles, was sie verloren hat, in drei Tagen wiedergeben."

Es klingt aber auch so, als ob man einen Sündenbock sucht?
Vielleicht muss man die Kirche im Dorf lassen und sagen, dass die Situation der Branche leider katastrophal ist. So gesehen, war vielleicht die ITB auch ein Stück Ventil für die Branche, wo die Leute ihren Frust rauslassen konnten und sich laut beschweren konnten, dass ihr Geschäft nicht rund läuft. Darauf haben wir natürlich keinen Einfluss. Ich bin ganz sicher, dass es eine gute Entscheidung war, die ITB nicht ausfallen zu lassen.

Tatsächlich müsste man froh sein, dass jemand in Deutschland einen innovativen Ansatz verfolgt und ein wenig Startup-Geist in die Branche bringt. Leider wird erst einmal das Haar in der Suppe gesucht und ständig gemeckert, dass alles nicht perfekt läuft. Wie empfinden Sie das?
Prinzipiell bin ich eher ein optimistischer Mensch, und vielleicht liegt das an meinem Schweizer Naturell, dass ich immer das halbvolle Wasserglas sehe und nicht das halbleere. Die Pandemie hat ja wie ein Katalysator für Digitalisierung insgesamt auf der Welt gewirkt. Deshalb war es auch für die ITB ein wichtiger Schritt, dass es ein digitales Messekonzept gibt. Wir sind stolz, dass wir die richtigen Zeichen gesetzt haben und diese Entscheidung früh getroffen haben. Aber man darf von uns keine Wunder erwarten, dass wir einer gebeutelten Branche jetzt alles, was sie verloren hat, in drei Tagen digital zurück geben. Wenn wir alle Industrien anschauen, vom Bau über das Handwerk bis zur Reisebranche und dem Gastgewerbe, dann ist momentan die Travel und Tourism Industrie am unteren Ende der Nahrungskette.Ich bin aber ganz gelassen: Wir können davon ausgehen, dass wir mit einem hybriden Konzept für die ITB Berlin am 9. März. 2022 unsere Türen wieder live öffnen können. Übrigens gibt es auch weitere Test-Möglichkeiten: Im November wird die ITB Asia in Singapur als Hybridveranstaltung stattfinden. Das heißt, innerhalb der ITB-Markenfamilie können wir verschiedene Konzepte testen. Wir arbeiten daran, unsere Funktionen zu verschlanken, das ganze Deutsch-Englisch zugänglich zu machen wie auch auf Smartphones und iPads.

Auf der ITB kam die Welt zusammen. Wie kann man den persönlichen Kern der ITB digital bewahren?
So lange es kein Hologramm gibt, das auch in irgendeiner Form multisensorisch agieren kann, so lange bleibt der hohe Wert der persönlichen Begegnung bestehen. Wir glauben an die Magie der persönlichen Begegnung, und das wird sich so schnell nicht ändern.

Wir danken fürs Gespräch!

 ZUR PERSON David Ruetz ist sozusagen Mr. ITB. Seit 2003 leitet der Schweizer die Internationale Tourismus Börse mit mehr als 10.000 Ausstellern aus 183 Ländern. Vor der Pandemie kamen jährlich Reiseveranstalter, Destinationen, Bundesländer, Airlines, Hotels, Autovermieter sowie Touristiker aus der ganzen Welt in Berlin zusammen. Hier setzte die Branche zuletzt rund sechs Milliarden Euro um. 2021 gab es erstmals eine digitale Messe auf einer innovatioven Digitalplattform samt Live-Streams vom Kongress.
PRIVAT: Ruetz ist verheiratet und hat vier Kinder. In seiner Freizeit spielt der studierte Pianist Kammermusik.